Table.Forum

Streitet Euch!
Aber mit Stil. Und Mut.

von Jochen Ott

Der Vorsatz, keine „Streit-Koalition“ sein zu wollen, ist ehrenwert und missverständlich. Der Koalitionsvertrag steht, aber Konsens über Wörter ist nicht das gleiche wie Konsens in der Sache. Gemeinsame Absichten sind noch keine gemeinsamen Beschlüsse. Viele Entscheidungen stehen noch aus: zu Finanzen, Sozialreformen oder Klimaschutz, erst recht zu großen Themen und Krisen, von denen wir noch gar nichts ahnen, die „unknown unkowns“, wie Donald Rumsfeld sie einst nannte, die schwierigsten Entscheidungen von allen.

Wo es noch viel zu entscheiden gibt, gibt es auch viel zu streiten. Das ist normal, unausweichlich und auch richtig. Argumente müssen ausgetauscht werden, Unterschiede zwischen den Parteien müssen sichtbar bleiben. Die Alternative zu Demokraten sind nicht Rechtsradikale, sondern die anderen Demokraten (auch wenn sie miteinander koalieren). Der springende Punkt ist also nicht Streit, sondern Stil.

Und damit hängt der Regierungserfolg an einer entscheidenden Frage: Wie versaut ist unsere politische Kultur? Genauer: Kriegen wir den Saustall, zu dem der politische Diskursraum in den letzten Jahren geworden ist, wieder ausgemistet? Ich spreche nicht nur von den Rändern dieses Raumes, sondern auch von seiner Mitte! Noch genauer: Streiten wir in der Mitte mit Argumenten oder mit Lügen? Streiten wir, um zu Kompromissen zu kommen, oder um den Koalitionspartner zu demütigen? Glauben wir, unterschiedliche Interessen zu vertreten, oder das „Gute“ gegen das „Böse“? Wen wollen wir mobilisieren? Was wollen wir entfesseln? Die Herzen der Menschen? Oder ihre inneren Schweinehunde?

Noch einmal: Ich bin für den Streit, gerne auch mal mit Polemik und Zuspitzung. Aber es macht einen Unterschied, ob wir auf Wahrhaftigkeit als politische Norm bestehen oder die Lüge als politisches Mittel akzeptieren. Es macht einen Unterschied, ob wir in anderen demokratischen Parteien Konkurrenten oder Gegner, vielleicht sogar Feinde sehen.

Meine erste Erwartung an die schwarz-rote Koalition wäre also, dass wir uns an ein Prinzip halten, das ich die „Daniel-Günther-Doktrin“ nennen möchte. Auf die Frage, wie seine Partei zu alter Stärke zurückfinden können, hatte der Ministerpräsident geantwortet: „Kurs der Mitte, sprachlich sauber bleiben, keine Debatten über das Gendern und andere Nebensächlichkeiten führen – den Leuten halt keinen Scheiß erzählen.“

Tatsächlich ist den Leuten in den vergangenen Jahren sehr viel Scheiß erzählt worden, auch von der demokratischen Opposition: über das Bürgergeld, das Heizungsgesetz, Steuern und Schuldenbremse. Heute dämmert es auch so manchen Konservativen: Wer den Anspruch auf Wahrhaftigkeit aufgibt, vergiftet die Luft, die er selber atmen muss.

Die Daniel-Günther-Doktrin zielt auch auf linke Kulturkämpfer, sie sei aber vor allem jenen ins Stammbuch geschrieben, die die Nähe zu extremistischen MAGA-Republikanern suchen (Spahn) oder den Trump-Wahlkampf ein „Vorbild“ nennen (Linnemann). Dass sich die Genannten nicht in die Kabinettsdisziplin einbinden lassen, ist kein gutes Zeichen.

Meine zweite Erwartung an die schwarz-rote Koalition richtet sich vor allem an den sozialdemokratischen Teil. Wir werden die Interessen von Arbeitnehmern und ihren Familien in dieser Regierung vertreten. Sozialreformen dürfen nicht zum Abbau des Sozialstaats, Bürokratieabbau nicht zum Abbau von Arbeitnehmerrechten führen. Aber wir dürfen dabei nicht zu einer konservativen Partei werden, nicht nur die Nein-Sager sein.

Bürokratieabbau bietet auch die Chance, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Vorschriften und Bevormundungen zu befreien: im Betrieb, in Schule und Kita, auch im Gesundheitssektor. Sozialreformen bieten die Chance, einen modernen Sozialstaat für die Mitte zu bauen, der wieder stärker auf universalistische Leistungen setzt und so die durchschnittliche Arbeitnehmerfamilie entlastet.

Links, frei und mutig. So wünsche ich mir den sozialdemokratischen Teil dieser Regierung. Dafür lohnt sich der Streit – und der Kompromiss.

Autor: Jochen Ott ist Mitglied des Landtags NRW (SPD).

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