von Nicola Buhlinger-Göpfräth
Unser Gesundheitssystem ist massiv überbeansprucht. Lange Zeit konnte die Politik diesen Fakt beiseiteschieben. Oberflächlich betrachtet, gab es keine Probleme. Das System war zwar an vielen Stellen ineffizient, die Versorgung der Menschen aber war gut, Termine waren genügend vorhanden, ein Krankenhaus immer in der Nähe und auch die Krankenkassen hatten ausreichend finanzielle Reserven.
Der Wind hat sich mittlerweile gedreht. In den Notaufnahmen wird man vielerorts ans nächste Krankenhaus verwiesen, die letzte Hausarztpraxis im Dorf hat zugemacht, die Augenärztin vertröstet auf einen Termin in sechs Monaten. Dass es so nicht weitergehen kann, ist mittlerweile überall angekommen.
Fakt ist: Unser Gesundheitssystem muss reformiert werden, bevor es gegen die Wand fährt. Eine Maßnahme, die dabei auf immer breitere Anerkennung trifft, wird aktuell unter den Schlagwörtern „Patientensteuerung“ oder „Primärarztsystem“ diskutiert.
„Patientensteuerung“ – Was dahinter steckt
„Patientensteuerung“ gehört seit jeher zur hausärztlichen Tätigkeit. Neben der primären Behandlung unserer Patientinnen und Patienten sind wir Hausärztinnen und Hausärzte aus- und weitergebildet, die Versorgung so zu koordinieren, dass jeder Erkrankte zur rechten Zeit am rechten Ort ist.
Ein Primärarztsystem setzt auf diese hausärztliche Kernaufgabe, indem der Hausarzt oder die Hausärztin die erste Anlaufstelle der Patientinnen und Patienten ist. Heißt: Bei den allermeisten gesundheitlichen Problemen geht man zuerst zur eigenen Hausarztpraxis. Wenn Facharztpraxen oder andere Gesundheitsfachberufe einbezogen werden müssen, erfolgt eine gezielte Überweisung in die richtige Versorgungsebene und an die notwendige Fachperson.
In vielen Ländern ist das gang und gäbe. Und auch in Deutschland wird ein solches System seit 17 Jahren erfolgreich umgesetzt. Damals hat die Politik mit der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) ein Versorgungsmodell gesetzlich etabliert, über das sich mittlerweile knapp 10 Millionen Menschen freiwillig steuern lassen.
Mehr als ein Überweisungsmodell
In den Tagen und Wochen vor den Koalitionsverhandlungen hat die politische Diskussion um das Thema deutlich an Fahrt aufgenommen. Die Koalitionäre hatten bereits klare Signale gesendet, künftig auf primärärztliche Steuerung setzen zu wollen. Daher war es nur folgerichtig, dass sich Union und SPD im Koalitionsvertrag auf ein verbindliches Primärarztsystem in der HZV und im Kollektivvertrag geeinigt haben – eine Mammutreform und ein großer Umbruch in unserem Gesundheitswesen.
Wer jetzt denkt: „Das ist doch nichts anderes als die Praxisgebühr – das gab es doch schon einmal.“, der irrt. Ein Primärarztsystem ist weit mehr als nur eine Person am Tresen, die Patientinnen und Patienten von A nach B schickt. Gute Patientensteuerung in einem Primärarztsystem lebt davon, dass die Primärärzte – sprich, die Hausärztinnen und Hausärzte sowie die Kinderärztinnen und Kinderärzte – den allergrößten Teil der medizinischen Anliegen abschließend behandeln. Dafür braucht es entsprechende strukturelle Rahmenbedingungen, hohe Qualitätsanforderungen an die Primärärztinnen und -ärzte, aber auch ein Vergütungssystem, das auf diese primärärztlichen Aufgaben zugeschnitten ist.
Blick in die Zukunft
Die Politik beweist Mut, sich an eine so tiefgreifende, aber wichtige Reform zu wagen. Es ist der richtige Schritt, hierbei auch auf ein etabliertes und breit evaluiertes System wie die HZV zu setzen. Die Zufriedenheit der teilnehmenden Patientinnen und Patienten ist hoch. Die Versorgung wird nachweislich verbessert und effizienter. Zudem stehen die Rahmenbedingungen.
Jetzt gilt es, dass mehr Menschen daran teilnehmen und sich klar für eine gesteuerte Versorgung entscheiden. Hier gibt es unterschiedliche Wege, die beschritten werden können. Eine Idee ist beispielsweise, Anreize zu setzen für Krankenkassen, die einen gewissen Anteil ihrer Versicherten im Rahmen der HZV steuern lassen. Mit derartigen Maßnahmen könnte die Politik Patientensteuerung schnell skalieren und nachhaltig selektivvertraglich ausbauen – ohne das komplette Gesundheitssystem umbauen zu müssen und so auf die Zerreißprobe zu stellen.
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Autor: Prof. Dr. Nicola Buhlinger-Göpfräth ist Bundesvorsitzende des Hausärtzinnen- und Hausärtzeverbandes.
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