Von Rüdiger Erben
Wäre eine Zeitenwende im Bevölkerungsschutz nicht längst und auch ohne den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine fällig gewesen? Die Antwort ist ein klares Ja.
Der Bevölkerungsschutz und die Katastrophenhilfe des Bundes sowie der Katastrophenschutz der Länder standen schon vor dem Februar 2022 vor erheblichen Herausforderungen. Längst hätte entschieden gehandelt werden müssen. Die aktuellen Gefahren für unsere Bevölkerung begründen sich nicht allein in der militärischen Konfrontation in Osteuropa. Eine ganze Reihe neuer und alter Gefahren treten nebeneinander: schwere sicherheitspolitische Spannungen sowie die Folgen des Klimawandels mit Flutkatastrophen und Waldbränden, internationale Konfliktlagen um Ressourcen und Rohstoffe wie auch neuartige Bedrohungen im Cyberraum, und zudem eine grundsätzlich höhere Anfälligkeit moderner Industrie- und Wissensgesellschaften.
Von einer Zeitenwende im Bevölkerungsschutz war in den letzten drei Jahren weit und breit nichts zu sehen. Zuletzt wurden die Haushaltsmittel des Bundes für den Zivilschutz und das Technische Hilfswerk (THW) sogar gekürzt.
Ich habe seit Jahren dafür geworben, dass neben das Sondervermögen für die Bundeswehr auch ein (kleineres) Sondervermögen für den Bevölkerungsschutz gestellt wird. Jetzt haben der alte Deutsche Bundestag und der Bundesrat durch die Grundgesetzänderung eine Zeitenwende auch im Bevölkerungsschutz möglich gemacht. CDU/CSU und SPD haben wichtige Vereinbarungen im Koalitionsvertrag getroffen, um dies in den nächsten Jahren umzusetzen.
Aufzuholen ist sehr viel. Zu oft sind Bund, Länder und Kommunen in den letzten Jahrzehnten erst aus Katastrophen klug geworden.
Über Jahrzehnte wurde in Deutschland der Hochwasserschutz vernachlässigt. Nicht einmal eine angemessene Bevorratung mit Sandsäcken gab es mehr. Von mobiler Technik zum Hochwasserschutz konnten die Katastrophenschützer nur träumen. Die Hochwasserkatastrophen in den Jahren 2002 und 2013 haben große Investitionsprogramme ausgelöst.
Im Sommer 2021 kam die Flutkatastrophe über das Ahrtal und die Menschen konnte nur unzureichend gewarnt werden. Die Sirenen waren abgebaut. Mittlerweile entstehen überall im Bundesgebiet, auch in Großstädten, wieder Sirenenstandorte.
Die zerstörten Erdgasleitungen auf dem Grund der Ostsee sind ein Symbol für die Verwundbarkeit der Infrastruktur und die Notwendigkeit diese auch physisch zu härten. Im Inland ist Deutschland von solcherart Szenarien bislang glücklicherweise verschont geblieben. Die Bedrohung ist jedoch latent und es sind viele Szenarien denkbar, die schwerwiegendste Auswirkungen auf das Leben der Menschen in Deutschland haben könnten.
Von CBRN (Chemisch, Biologisch, Radiologisch, Nuklear)-Ereignissen größeren Ausmaßes ist Deutschland glücklicherweise bislang verschont geblieben. CBRN-Lagen stellen eine besondere Herausforderung dar, da sie hochspezialisierte Kenntnisse und Ausrüstungen erfordern und das Potenzial haben, massive Schäden für Mensch und Umwelt anzurichten.
Und schließlich, welche Folgerungen für den Bevölkerungsschutz sind unmittelbar aus dem Krieg in der Ukraine zu ziehen? Das anzunehmende Kriegsbild für Deutschland hat sich gewandelt. Es ist eher nicht von großflächiger (physischer) Zerstörung auszugehen. Vielmehr ist zu er-warten, dass dieses sich hin zur Sabotage, Zersetzung und strategischer (Aus)Nutzung von Lieferketten sowie vereinzelten Ereignissen mit lokal kriegsähnlichen Auswirkungen gewandelt hat.
Weil die oben dargestellten Bedrohungen so bestehen und das zu befürchtende Kriegsbild eine sehr begründete Annahme darstellt, gilt es alles zu tun, um nicht auch hier erst aus Schaden klug zu werden.
Die Stärkung des integrierten Systems der Gefahrenabwehr, das von den Gemeinden, Landkreisen, Ländern und Bund getragen wird und die Feuerwehren, Hilfsorganisationen und das THW umfasst, ist unabdingbar. Die bisherige strikte Trennung zwischen Zivilschutz und Katastrophenschutz ist nicht mehr zeitgemäß und sollte aufgegeben werden. Die Nutzung von Zivilschutzressourcen des Bundes für friedenszeitliche Katastrophenlagen in den Ländern und die Nutzung der friedenszeitlichen Katastrophenschutzpotentiale für die Zwecke des Zivilschutzes im Verteidigungsfall ist von Vorteil für alle, auch wenn der Eintritt von Katastrophen in Friedenszeiten (zum Glück) ungleich wahrscheinlicher ist.
Ich bin optimistisch, dass es Bund, Ländern und Kommunen in den nächsten Jahren gelingt, die riesigen Defizite im gesundheitlichen Bevölkerungsschutz, bei der Abwehr von CBRN-Gefahren, bei der Wassersicherstellung oder auch den Schutzräumen zu beseitigen.
Autor: Rüdiger Erben ist Mitglied des Landtags in Sachsen-Anhalt.
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