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Nachnutzung muss sexy sein

von Zehra Öztürk und Robert Peter

„Ich habe nichts Neues erfunden. Ich habe lediglich die Entdeckungen anderer Männer zusammengefügt, hinter denen Jahrhunderte an Arbeit stehen.“ So formulierte es einst Henry Ford und machte deutlich: Fortschritt entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern baut auf dem Wissen und den Ideen anderer auf. Auch bei knappen Ressourcen wie Zeit und Geld ist Innovation möglich – vorausgesetzt, diese Ressourcen werden nicht durch die Wiederholung von bereits Bestehendem vergeudet. Man muss das Rad nicht immer neu erfinden.

Gerade öffentliche Gelder sollten wir bedacht einsetzen. Dieses Bewusstsein ist im staatlichen Handeln unterschiedlich stark ausgeprägt. Auf der einen Seite erfordern Abrechnungen kleiner Auslagen in einer Behörde immensen bürokratischen Aufwand. Auf der anderen Seite werden große Projekte gefördert, deren Potenzial nicht ausgeschöpft wird. Dies gilt besonders im Bereich der Verwaltungsdigitalisierung.

Die Idee zu Effizienz und mehr Nachnutzung ist durch das Online-Zugangs-Gesetz föderal tauglich ausgearbeitet worden: Nach dem Vorbild der drei Musketiere entstand das „Einer für alle“-Prinzip. Die Idee dahinter: Es reicht, wenn eine Verwaltung ein gutes digitales Verfahren entwickelt, das anschließend von allen – oder zumindest vielen – anderen Verwaltungen nachgenutzt werden kann.

Klingt in der Theorie simpel und logisch. In der Praxis kommt das aber noch viel zu selten zum Tragen. Das Potenzial von Nachnutzung bleibt weitgehend ungenutzt. Häufig liegt das daran, dass Lösungen nicht konsequent auf eine gute Übertragbarkeit hin gestaltet sind – oder daran, dass die Bereitschaft zur Übernahme fehlt. Allzu oft steht dem die Haltung entgegen: Nur was wir selbst entwickelt haben, ist wirklich gut. Nachnutzung hat es schwer, weil sie nicht sexy ist und sie selten mit der gleichen Begeisterung verbunden ist wie das geliebte eigene Projekt.

Dabei wäre genau das entscheidend: Lösungen nicht nur zu erfinden, sondern auch gemeinsam weiterzutragen. Doch die staatliche Förderlogik ist bislang stark auf Leuchtturmprojekte ausgerichtet – nicht auf Skalierung oder systematische Verbreitung. Es gibt längst Initiativen, die zeigen, wie viel Potenzial in der Nachnutzung liegt. Preise und Auszeichnungen wie der Preis für gute Verwaltung, das “Bewährt vor Ort”-Siegel, der InfoSec Impact Award oder der Ko-Pionier-Preis setzen hier an. Dieser Preis würdigt explizit die Nachnutzenden und zeigt damit: Es ist nicht nur „gut genug“, Bestehendes zu übernehmen – es ist eine eigenständige Leistung, die unsere Verwaltung und Gesellschaft dringend brauchen.

Im März 2025 wurden auf der Veranstaltung Digitaler Staat des Behördenspiegels erstmals Ko-Pionier:innen ausgezeichnet – Menschen, die zeigen, dass Fortschritt oft dort beginnt, wo wir nicht alles neu erfinden. Auf einer Bühne einen Preis zu empfangen – das ist sexy. Der Ko-Pionier-Preis setzt ein wichtiges Zeichen, der Verwaltungen deutlich macht, wie attraktiv Nachnutzung sich auf ihre Ressourcen auswirken kann.

Das allein aber ändert nichts an den strukturellen Problemen. Kleine Kommunen sind mit der Aufgabe überfordert, Fachverfahren ins digitale Zeitalter zu überführen, ohne Unterstützung und ohne die Komplexität der Beantragungsprozesse zu reduzieren. Das Aufteilen der Entwicklung von digitalen Fachverfahren auf viele Schultern erschwert medienbruchfreie Prozesse. Und genau die zugrunde liegenden Prozesse wurden bisher nicht vereinheitlicht, wodurch das Potenzial für Nachnutzung ungenutzt bleibt.

Was wäre aber, wenn die Grundvoraussetzungen besser wären? Was wäre, wenn wir eine deutschlandweite IT-Architektur hätten, mit standardisierten Schnittstellen und einem definierten Tech-Stack? Wir hätten Klarheit darüber, wann wir auf Open Source setzen und wann auf proprietäre Software. Wir wüssten, welche Abhängigkeiten wir haben und welche Risiken diese bergen. Wir würden Lösungen und Software direkt so erstellen, dass diese nicht nur für eine Verwaltung funktionieren, sondern für viele. Die Lösungseigner:innen würden verstehen, dass sie manchmal mehr investieren für das große Ganze und es ok ist, weil sie so ihren Beitrag leisten für eine bessere Verwaltung. Sie wären umgekehrt Nutznießende, weil andere auch nach diesem Prinzip Lösungen bereitstellen, die sie direkt übernehmen können. Was wäre, wenn wir uns alle danach richten würden?

Ein solches Ökosystem wäre kostensparend und lösungsorientiert. Anwendungen könnten so von Kommunen gemeinsam in Entwicklungsallianzen nutzerorientiert und nachnutzbar entwickelt werden. Nachnutzung wäre keine Zufallsoption, sondern gelebte Praxis – unterstützt durch klare Strukturen, Anreize und gemeinsame Weiterentwicklung.

Zurück zu Henry Ford: Fortschritt entsteht, wenn Innovationen und Bestehendes mit der Weitsicht, Kreativität und Zusammenarbeit der Gegenwart verbunden werden. Und wenn wir dann die Innovationen und Arbeiten von Frauen auch noch berücksichtigen und nicht wie Ford nur von Männern, dann hätten wir richtig was erreicht.

Nachnutzung ist keine zweite Wahl oder Notlösung – sie ist ein Ausdruck von Verantwortung. Sie spart nicht nur Kosten, sondern kann, richtig gestaltet, zu besseren Lösungen führen. Und genau das braucht ein Staat, der resilient, lernfähig und zukunftsfähig sein will.

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Autoren:

Zehra Öztürk ist Fellow bei Re:Form und stellvertretende Leiterin Steuerung Fachverfahren und Neue Technologien in der Senatskanzlei der Freien und Hansestadt Hamburg

Robert Peter ist Co-Initiator von Re:Form und Experte für Kommunen und Digitalisierung.

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